Digitale Exkursion

Digitale Exkursion
Zwischen historischen Fakten und notwendigen Leerstellen
Kategorie: INNOmobil, News

In der Corona-Krise sind für die neuen Studierenden der Hochschule Merseburg nicht nur so essentielle Dinge wie das Kontakteknüpfen und Präsenzseminare weggefallen, auch Exkursionen waren leider nicht möglich. Da an einer Hochschule für Angewandte Wissenschaft jedoch der Blick in die Praxis auch in der Lehre einen hohen Stellenwert einnimmt und trotz Corona nicht fehlen soll, wurde im Sommersemester 2021 ein innovatives Pilotformat umgesetzt, um die Lücke bestmöglich zu füllen. So fand an zwei Terminen im Mai und Juni für fast 60 Studierende des zweiten Bachelor-Semesters im Studiengang Kommunikations- und Medienpädagogik etwas ganz Neues statt: Eine digitale Gedenkstätten-Exkursion.

Im Rahmen des Kooperationsprojektes „Volksgemeinschaft. Verwertung. Mord. – Rechtsextreme Logiken früher und heute“, das seit Herbst 2020 vom Fachbereich Soziale Arbeit. Medien. Kultur und dem Transferprojekt INNOmobil mit der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen aufgebaut wird, gaben die Mitarbeiter der Gedenkstätte, Andreas Froese und Lukkas Busche, über eine Online-Plattform einen historischen Überblick zum Massaker vom Gardelegen, bei dem am 13. und 14. April 1945 über 1000 KZ-Häftlinge durch Angehörige der SS, der Wehrmacht und des Volkssturms unter Beteiligung der örtlichen Bevölkerung ermordet wurden.

Obwohl wir alle vor unseren heimischen Bildschirmen saßen, wurden wir von Andreas und Lukkas virtuell dort abgeholt, wo bei einer „echten“ Exkursion auch unser Bus angekommen wäre: Auf dem Außengelände der Gedenkstätte. Durch kurze YouTube-Clips, die wir parallel zur Onlinekonferenz anschauten, und die anschließende Möglichkeit, Fragen zu den verschiedenen Stationen auf dem Gelände und den dahinterliegenden historischen Begebenheiten zu stellen, war der Rundgang so lebensnah wie möglich gestaltet. Wir erfuhren, dass der militärische Ehrenfriedhof mit seinen 1016 weißen Kreuzen bereits im April 1945 auf Anordnung der Amerikaner angelegt wurde, nachdem diese während der Befreiung Gardelegens mit einem Bild des Grauens konfrontiert worden waren. Sie fanden die Leichen der ermordeten Männer in einer abgebrannten Feldscheune sowie in notdürftig zur Spurenverwischung ausgehobenen Massengräbern. Der Umstand, dass die Zivilbevölkerung von Gardelegen dazu verpflichtet wurde, die richtigen Gräber für den Militärfriedhof sowohl auszuheben als später auch zu pflegen, wird verständlich angesichts des Umstandes, dass zahlreiche Zivilisten mindestens von dem Massaker – zu dem es im Übrigen keinen klar rekonstruierbaren Befehl „von oben“ gab – wussten oder gar aktiv an den Mordhandlungen bzw. den darauffolgenden Vertuschungsversuchen beteiligt waren.

Eine unerwartete historische Zeitebene bei der Betrachtung des Außengeländes tat sich auf, als wir mehr über die Geschichte der Gedenkstätte in der DDR erfuhren, die deutliche Spuren im Außengelände hinterlassen hat. Nationalsozialistische Tatorte waren und sind seit jeher umkämpftes Terrain und Gegenstand verschiedener Lesarten der Geschichte. Während die Amerikaner eine klare Kennzeichnung der Einzelgrablagen gewährleisteten und eine Hinweistafel auf die Pflicht zur Erhaltung des Gedenkortes errichteten, wurde letztere kurz darauf sogar abmontiert und der Ort im Staatsnarrativ der DDR zum Schauplatz des Antifaschismus stilisiert – ein Rahmen, der insbesondere der ambivalenten Rolle der Gardelegener Bevölkerung bei der Umsetzung des Massakers nicht gerecht wurde. Heute wird dem Anspruch, wissenschaftlich und historiografisch belegbare Fakten mit dem Gedenken an die Opfer zu verbinden, auch in der Namensgebung der Gedenkstätte Rechnung getragen. So wurde 2015 aus der noch im DDR-Duktus benannten „Mahn- und Gedenkstätte Gardelegen“ die „Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen“.

Nachdem die Studierenden zum Außengelände viele interessierte Fragen stellten, konnten wir virtuell den Innenraum des erst im Herbst 2020 eröffneten neuen Dokumentationszentrums, das auch die neue Dauerausstellung beherbergt, betreten. Auch hierfür hatten die Kollegen der Gedenkstätte eigens eine Playlist mit Kurzclips zur Ausstellung angelegt – gefühlt war es fast so, als hätten sie uns persönlich durch den klug gestalteten und mit zahlreichen Exponaten versehenen Ausstellungsraum geführt. Zunächst wurde die Vorgeschichte der Kleinstadt Gardelegen in der NS-Zeit beleuchtet – gleichwohl in der ländlichen Altmark gelegen, fand auch hier kriegsrelevante Produktion statt, und wurden auch hier während des Krieges tausende Zwangsarbeiter vor allem in der Landwirtschaft eingesetzt. Die jüdische Gemeinde Gardelegens, die im Jahr 1925 noch 65 Mitglieder gezählt hatte, war bis zum Jahr 1942 völlig verschwunden. Seit Kriegsbeginn hatten nur noch wenige Personen in einem sogenannten „Judenhaus“ gelebt und waren dann deportiert worden. Dem Mythos des „friedlichen“ Gardelegens konnten diese auch visuell sehr anschaulich dargestellten statistischen Fakten ein Gegengewicht setzen. Nationalsozialismus und Krieg erreichten Gardelegen also mitnichten erst im Jahr 1945 – die letzten Kriegstage markieren jedoch die Phase, in der die Altmark zum Schauplatz zahlreicher offener Verbrechen an KZ-Häftlingen, die zuvor in den Lagerkomplexen Mittelbau-Dora und Neuengamme ums Überleben gekämpft hatten, wurde. Nach der Räumung von Außenlagern der beiden KZs kam es in den Wirren des Kriegsendes und bei den anschließenden Todesmärschen dann zum Massaker in der Feldscheune Isenschnibbe.

Wo die Worte, aber auch die Bildquellen fehlen, sind Darstellungsmodi notwendig, die sowohl der Würde der Opfer gerecht werden als auch die Taten klar benennen. Das Kernstück der Ausstellung, dem wir den gesamten zweiten Termin der digitalen Exkursion gewidmet haben, ist darum auch die als Graphic Novel realisierte Bildreihe zur Vorgeschichte und zum Hergang des eigentlichen Massakers. Die innovative Bildsprache wurde von den Studierenden in einer längeren Phase der Kleingruppenarbeit analysiert. Was sagten ihnen die Bilder über die Täter und Mitwisser? Mit welchen Leerstellen sahen sie sich konfrontiert? Gibt es Mythen, die auch durch die lokale Bevölkerung weiter gestärkt werden? Welche visuellen Signale werden in der Ausstellung gesetzt, um auf Schlüsselmomente und Handlungsspielräume aufmerksam zu machen? Welche emotionalen Prozesse haben sie bei sich beobachtet?

Als angehende Kultur- und Medienpädagog*innen hat die Gruppe diese Impulse genutzt, um kritisch zu reflektieren, was auch in ihrer beruflichen Zukunft einmal relevant werden kann. Die Beschäftigung mit nationalsozialistischen Verbrechen braucht einerseits ein theoretisches Verständnis der Ideologeme des Faschismus früher und heute – auch in Abgrenzung zum Rechtspopulismus in der heutigen Parteienlandschaft –, andererseits sind innovative und kreative Ansätze gefragt, um pädagogische Materialien und Ausstellungsexponate zum Thema zu entwickeln. Hierfür diente die Dauerausstellung in Gardelegen als gelungenes Beispiel.

Die Studierenden haben schließlich im Nachgang der Exkursion als Semesterleistung die Aufgabe gehabt, ihre eigenen Reflexionen zu den behandelten Inhalten in eine „Bildergeschichte“ einfließen zu lassen. Dieser Begriff war in Anlehnung an die Brecht’sche Kriegsfibel gewählt worden; die zu entwickelnden Produkte entstehen bis zum Semesterende in einem offenen Werkstattprozess. Sowohl aktuelle als auch historische Phänomene und Auswirkungen faschistischer Ideologie werden darin kritisch beleuchtet und in ganz unterschiedlichen medialen Formaten künstlerisch aufbereitet – vom Gemälde über Videoinstallationen bis hin zum Instagram-Kanal ist alles dabei.

Eine Erkenntnis aus der Beschäftigung mit aktuellen Ansätzen aus der historisch-politischen Bildung und Ausstellungsgestaltung, die hier als Handlungsprämisse dient, ist dabei, dass Zeugenschaft vor Voyeurismus kommt. Gleichwohl es wichtig ist, Fakten korrekt zu benennen und historische wie aktuelle Gräueltaten nicht als reine Abstrakta „mitlaufen“ zu lassen, haben künstlerisch-mediale Annäherungen an Nazismus und (Neo-)Faschismus nicht ausschließlich den Sinn, Verbrechen zu archivieren und wertfrei „abzubilden“. Gleichermaßen kann aber auch die auf Wirksamkeit zielende Emotionalisierung, also das Hin-Gestalten auf eine Schockwirkung, nicht ihr Hauptzweck sein. Das Konzept der Zeugenschaft, das ein zentrales Motiv der Nachkriegsphilosophie ist und dieser Darstellungsproblematik Rechnung trägt, wurde darum immer wieder mit den Studierenden diskutiert und auf seine Relevanz für die eigenen Arbeiten hin überprüft.

Die so entstandenen kritischen Arbeiten werden künftig im Rahmen von Transferformaten der Demokratiebildung im INNOmobil gezeigt. Premiere wird das Merseburger Jubiläumsfest am ersten Oktoberwochenende sein, zu dem das INNOmobil als mobiler Ausstellungsraum für die Exponate der Studierenden dienen wird.

 

 

 

Fotos: ©Andreas Matthes/KOCMOC Leipzig

 

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