Studie zu Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt unter Jugendlichen

30.07.2021, Zentraler Beitrag

Im Rahmen einer digitalen Pressekonferenz hat am Freitag, 30. Juli, Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung, die PARTNER 5 Jugendstudie vorgestellt. Bei der Pressekonferenz wurde er von Holger Paech, Kinder- und Jugendbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt, und Jürgen-Wolfgang Stein, Psychologe und u.a. Mitglied des Fachgremiums beim Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bei der Bundesregierung, unterstützt.

Durchgeführt wurde die PARTNER 5 Jugendstudie im Auftrag des Ministeriums für Inneres und Sport des Landes Sachsen-Anhalt vom sexualwissen­schaftlichen Bereich der Hochschule Merseburg. Befragt wurden Jugendliche im Alter zwischen 16 und 18 Jahren. Ziel war es, einen tieferen Einblick in das Dunkelfeld zu Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt zu erhalten und Ableitungen für Verfahrensabläufe und die Funktionalität von bestehenden Hilfe- und Unterstü­tzungs­strukturen erhalten zu können. Die Studie zeigt, anders als die schon erschreckende Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Bundeskriminalamtes, nicht nur Zahlen. Sie gibt einen tiefen Einblick in die Erfahrungen der jungen Leute mit sexuellen Grenzverletzungen und mit sexualisierter Gewalt. Man bekommt eine Ahnung davon, wie sich Gewalt für die Betroffenen anfühlt. Und während die PKS diejenigen Straftaten zählt, die angezeigt wurden, beleuchtet die Studie das sogenannte Dunkelfeld.

Die Studie fügt sich in Maßnahmen des Landes Sachsen-Anhalt ein, eine gute Unterstützung für Betroffene von sexualisierter Gewalt zu gewährleisten und angepasste Präven­tionsangebote vorzuhalten. Die PARTNER 5 Studie, die neben der Jugendstudie auch eine Erwachsenenstudie beinhaltet, wurde vom Minis­terium für Inneres und Sport gefördert. Die umfassenden Ergebnisse gehen in die Weiterentwicklung der Interventions- und Präventions­maßnahmen des Landes ein. Einige bedeutsame Ergebnisse sind:

  • Allgemein sexuelle Belästigung – von verbalen Übergriffen wie Cat­calling bis hin zu unerwünschten Berührungen im öffentlichen Raum – ist häufig. Fast alle weiblichen und diversgeschlechtlichen und die Hälfte der männlichen Jugendlichen haben bereits Formen sexueller Belästigung erlebt.
  • Einen Vergewaltigungsversuch hat jede vierte weibliche Jugendliche (24%) erlebt, 7% der männlichen Jugendlichen und 39% der divers­geschlechtlichen Jugendlichen waren ebenso bereits von einem Vergewal­tigungsversuch betroffen. Eine vollendete Vergewaltigung haben 14% der weiblichen Befragten, 3% der männ­lichen und 21% der diversen Jugendlichen selbst erfahren.
  • In der Studie wurde genauer nach dem belastendsten Erlebnis gefragt. Gerade für Delikte in der Kindheit zeigt sich eine angewachsene Anzei­gehäufigkeit: Über 20% der Fälle werden hier mittlerweile zur Anzeige gebracht, vor 30 Jahren waren es nur etwa 4% der Fälle. Im Jugendalter erfahrene Delikte werden deutlich seltener (nur 0 bis 5%) zur Anzeige gebracht.
  • Vertrauenspersonen werden von Mädchen mehrheitlich (zu 61%), von Diversen zu 49% und Jungen zu 37% hinzugezogen. Das sind oft Freund*innen, Partner*innen oder Mütter, in etwa 40% der Fälle Professionelle.
     

Detaillierter erster Überblick über die Ergebnisse der Studie:

Die PARTNER 5 Jugendstudie Jugendliche 2021 wurde Anfang 2020 als Paper-Pencil-Befra­gung an Bildungseinrichtungen Sachsen-Anhalts begonnen und aufgrund der Corona-Pandemie als onlinebasierte Studie von Oktober 2020 bis März 2021 fortgeführt. Teilgenommen haben 1.443 Personen, 1.269 online und 174 offline. Die gültige Stichprobe umfasst die Antworten von 861 Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen zwischen 16 und 18 Jahren (Durchschnittsalter 16,9 Jahre) darunter 522 Mädchen/junge Frauen, 297 Jungen/Männer sowie 42 Personen mit diverser Geschlechtsidentität. 377 Teilnehmer*innen wohnen in Sachsen-Anhalt, 471 in den neuen Bundesländern.

PARTNER 5 ist eine komplexe sexualwissenschaftliche Studie mit einigen krimi­nologisch relevanten Fragestellungen. Neben der Erhebung von Prävalenzen zu sexuellen Grenzverletzungen und den Analysen zu Anzeige bzw. Nichtanzeige strafrechtlich relevanter Taten geht es vor allem um die subjektive Sicht der Betroffenen: Was haben sie erlebt, wie sind sie damit umgegangen, wie haben sie das Erlebte verarbeitet, wie stark ist der Leidensdruck und wovon hängt er ab?
 

Teil 1: Erfahrungen mit verschiedenen sexuellen Grenzverletzungen

Sexuelle Belästigung: Fast alle weiblichen (94%) und diversgeschlechtlichen (97%) und die Hälfte (52%) der männlichen Jugendlichen haben bereits Formen sexueller Belästigung erlebt.

Wo erfolgen sexuelle Übergriffe: Am häufigsten sind verbale Übergriffe (w: 78%, d: 87%, m: 28%), gefolgt von körperlichen Grenzverletzungen im öffentlichen Raum (w: 66%, d: 74%, m: 26%). Auch im Internet und in der Schule werden Übergriffe häufig erlebt – von bis zu 50% der Mädchen und bis zu 25% der Jungen. Am seltensten sind sexuelle Grenzverletzungen in den Herkunftsfamilien. Diversgeschlechtliche Jugendliche sind in allen Bereichen häufiger betroffen.

Vergewaltigung: Jede vierte weibliche Jugendliche (24%) hat bereits einen Vergewaltigungsversuch erlebt, männliche Jugendliche sind viel seltener betroffen (7%), diversgeschlechtliche Jugendliche viel häufiger (39%). Von selbst erfahrener Vergewaltigung berichten 14% der jungen Frauen (21% der diversen, 3% der männlichen Jugendlichen). Die Erfahrungen mit schweren Formen sexualisierter Gewalt sind historisch etwas angewachsen. Das betrifft auch die Erfahrungen mit Zwang beim „ersten Mal“.

Belastungserleben: Die diversen und die weiblichen Jugendlichen haben nicht nur häufiger Übergriffe erlebt, sie leiden auch deutlich stärker darunter als die männlichen Befragten. Jede vierte junge Frau leidet sehr stark oder stark, nur jede dritte fühlt sich gar nicht belastet. Bei den jungen Männern äußern 7% starkes Leid, während die Mehrheit (59%) sich überhaupt nicht belastet fühlt. Vergewaltigungen und andere körperliche Übergriffe haben das stärkste Traumatisierungspotenzial. Übergriffe in der Herkunftsfamilie erzeugen den stärksten Leidensdruck, Übergriffe im Internet den geringsten.
 

Teil 2: Das belastendste Erlebnis

Zur genaueren Charakterisierung konkreter Delikte und der Erfassung des damit verbundenen Anzeigeverhaltens wurde in der Studie nach dem belastendsten Erlebnis eines sexuellen Übergriffs gefragt, zu dem sich 69% der weiblichen, 88% der diversen und 39% der männlichen Jugendlichen äußerten.

Deliktcharakteristika: Etwa die Hälfte aller bedeutsamen Erlebnisse bei den weib­lichen und diversen Jugendlichen sind Hands-on-Delikte (also Taten mit Körper­kontakt), bei den männlichen lediglich ein Viertel.

Alter der Opfer: Ein Viertel der Befragten – männlich wie weiblich – erinnert sich an einen sexuellen Übergriff in der Kindheit, diversgeschlechtliche zu 40%.

Täter*innen: Die Täter*innen sind überwiegend männlich. Die jungen Frauen geben zu 3%, die Männer zu 24% weibliche Täter*innen an. Rund 60% aller Taten werden durch bekannte Täter*innen ausgeübt.

Vertrauenspersonen: Während sich Mädchen nach erlebten Übergriffen mehrheit­lich (zu 61%) an eine Vertrauensperson wenden, ist das bei Jungen deutlich seltener der Fall (37%).

Anzeigeverhalten: Weibliche Opfer zeigen geringfügig häufiger an als männliche (9% : 7%). Übergriffe in der Kindheit werden bei beiden Geschlechtern annähernd gleich – in über 20% der Fälle – zur Anzeige gebracht. Die Anzeigehäufigkeit ist historisch angewachsen, wie der Vergleich mit der Erwachsenenstudie zeigt: Während vor 30 Jahren nur etwa jeder fünfundzwanzigste Fall sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gelangte, ist es in den letzten Jahren mindestens jeder fünfte.

Beurteilung des Anzeigeverhaltens: Die wenigen Jugendlichen, die Anzeige erstatteten, beurteilen ihre Entscheidung retrospektiv zu 90% als richtig. Auch Nichtanzeigen werden aus heutiger Sicht als überwiegend richtig bewertet (74%), deutlich mehr als in der Erwachsenenstudie (58%). Je jünger die Betroffenen beim Delikt, desto kritischer wird die Nichtanzeige gesehen.

Hilfs- und Unterstützungsbedarf: Den allermeisten von sexueller Gewalt Betroffenen stehen – wenn sie es denn für notwendig erachten – private wie professionelle Hilfspersonen zur Verfügung. Das sind am häufigsten gute Freund*innen oder Mütter, aber auch – in ca. 40% aller Hilfen – Professionelle. Die Mehrheit der Betroffenen (58% weiblich, 70% männlich) hat jedoch weder Hilfe erhalten noch einen entsprechenden Bedarf. Die diversgeschlechtlichen Jugendlichen sind die vulnerabelste Gruppe mit dem vergleichsweise größten Hilfebedarf.

Die Studie mit allen Ergebnissen können Sie hier einsehen.

Informationen zu den Bachelor- und Masterstudiengängen des Fachbereiches Soziale Arbeit.Medien.Kultur finden Sie hier.
 

Kontakt:

Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professor für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
Eberhard-Leibnitz-Str. 2
06217 Merseburg
E-Mail: heinz-juergen.voss@hs-merseburg.de

 

 

 

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